James Graham Ballard

James Graham Ballard (bekannt unter dem Schriftstellernamen J. G. Ballard; * 15. November 1930 in Shanghai; † 19. April 2009 in Shepperton) war ein britischer Schriftsteller. Sein Werk zeichnet sich durch eine große Bandbreite in der Auswahl der Genres Science-Fiction, zeitgenössischer Roman und experimentelle Literatur aus.

Leben

Ballards Vater, ein Chemiker, leitete in Shanghai die Niederlassung einer britischen Textilfirma. James Ballard wuchs in der dortigen internationalen Siedlung auf. Nach dem Angriff auf Pearl Harbor besetzte Japan die Siedlung und begann im Frühjahr 1943, alliierte Zivilisten zu internieren. Mehr als zwei Jahre lang, bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde Ballards Familie im japanischen Zivilgefangenenlager Longhua in Shanghai festgehalten. 1946 kehrten seine Mutter und seine Schwester mit ihm nach England zurück, ließen ihn jedoch dort in der Obhut der Großeltern und gingen wieder nach China zu Ballards Vater. Ballard begann am King’s College 1949 ein Medizinstudium, um Psychiater zu werden. 1951 erschien seine Erzählung The Violent Moon in einer Studentenzeitschrift. Er wechselte zu englischer Literatur am Queen Mary and Westfield College und verließ die Universität ohne Abschluss. Danach arbeitete er als Werbetexter und Verkäufer von Enzyklopädien, ehe er 1953 zur Royal Air Force ging, um sich den Traum vom Fliegen zu erfüllen. Das Militär schickte Ballard nach Moose Jaw, Kanada in einen Ausbildungsstützpunkt der RCAF. Flugzeuge und das Fliegen sollten fortan ein immer wiederkehrendes Motiv in seinen Texten sein. In Kanada kam er auch mit der US-amerikanischen Science-Fiction in Berührung.

Nach seiner Rückkehr heiratete er und zog 1955 mit seiner Frau Mary nach Chiswick. 1960 ließ sich das Ehepaar in der Londoner Vorstadt Shepperton nieder, was ihm später den Beinamen „Prophet von Shepperton“ eintrug. Ballard arbeitete als Redakteur bei einer wissenschaftlichen Zeitschrift und schrieb nebenher. 1956 wurde seine erste Science-Fiction-Story Prima Belladonna in der Zeitschrift New Worlds veröffentlicht. Der Herausgeber des Magazins, Edward J. Carnell, wurde in den Folgejahren ein Förderer von Ballard und druckte fast alle seine Texte. Während eines zweiwöchigen Urlaubs schrieb Ballard seinen ersten Roman The Wind from Nowhere. In dem Buch geht es um unerklärliche starke Stürme, die die menschliche Zivilisation zerstören, und die Art und Weise, wie die Menschen sich angesichts einer solchen Katastrophe verhalten; beides, die globale Katastrophe und ihre Auswirkungen auf die menschliche Psyche, waren Konstanten in Ballards Werk der 1960er Jahre. Der Erfolg von The Drowned World (1963) ermöglichte es ihm, als freischaffender Autor zu leben[1].

Ballards Frau starb 1964 während eines gemeinsamen Urlaubs in Spanien an Lungenentzündung, und Ballard zog seine drei Kinder alleine auf. Zu seinen Freunden und literarischen Weggefährten zählte unter anderem der Fantasyschriftsteller und Musiker Michael Moorcock. Seit 1969 war er mit der Journalistin und Herausgeberin Claire Walsh liiert,[2] sie lebten aber erst in den letzten Monaten vor seinem Tod zusammen. Walsh gilt als das Vorbild der Figur der Catherine in Crash. Mit Miracles of Life legte er 2008 seine Autobiographie vor, nachdem er sein Leben bereits – teils stark fiktionalisiert – in Empire of the Sun und The Kindness of Women literarisch aufgearbeitet hatte.

2006 wurde bei Ballard Prostatakrebs diagnostiziert, der drei Jahre später zu seinem Tod führte.[3]

Themen

Viele seiner Romane und Erzählungen entwerfen Dystopien und Weltuntergangsszenarien, in denen Ballard den Zerfall der sozialen Strukturen und Bindungen angesichts des Untergangs beschreibt. Dabei betrachtet er unter anderem den Konflikt zwischen den Möglichkeiten einer radikalen Individualität und der Restloyalität gegenüber den verbleibenden gesellschaftlichen Normen.

Der aus seinen ersten vier Romanen bestehende Katastrophenzyklus, entstanden in den 1960er Jahren, hat die Zerstörung unserer bekannten Welt und den Untergang der Zivilisation zum Thema. In The Wind From Nowhere fegt ein stetig anschwellender Sturm die Erdoberfläche kahl. Leben ist nur noch in einem gigantischen, von einem reichen Unternehmer erbauten Betonbunker möglich. In The Drowned World lassen erhöhte Temperaturen den Meeresspiegel ansteigen und verwandeln die gesamte Umwelt in eine urweltliche Dschungellandschaft, in der neue Lebensformen entstehen. In The Burning World verhindern chemische Rückstände die Verdunstung des Meerwassers und lösen eine weltweite, verheerende Dürre aus, die Landschaften und Menschen in dramatischer Weise verändert. In Crystal World befällt eine durch ein verschobenes Zeitgefüge ausgelöste Krankheit Menschen, Tiere und Vegetation und verwandelt sie in kristalline Strukturen. Das zuerst in einer Region Westafrikas auftretende Phänomen breitet sich zusehends aus. Das Thema der transformierten Zeit aus Crystal World griff Ballard später erneut in längeren Erzählungen wie Memories of the Space Age auf.

In den 1970er Jahren suchte Ballard die Katastrophe in lokal begrenzten, urbanen Szenarien: Crash schildert die erotische Anziehungskraft tödlicher Autounfälle, und Concrete Island beobachtet das Leben auf inselartigen Landstrichen, die komplett von unüberquerbaren Autobahnstrecken umschlossen sind. Seine letzten Romane variierten das Thema der übersättigten Konsumgesellschaft, die in individuellen oder kollektiven Gewaltakten versucht, ihrer Starre zu entfliehen.

Ballards Werke teilen sich auf in traditionell-erzählerische, mit einer dichten, bildhaften Sprache arbeitende Werke und in experimentelle, die sich z. B. Collage-Techniken bedienen. Seine wiederkehrenden Bilder und Motive wie karge, menschenleere Landschaften oder die psychologischen Auswirkungen von technologischen, sozialen und ökologischen Umwälzungen prägten das Adjektiv „ballardian“.[4][5] Als Einflüsse auf sein Schreiben nannte Ballard selbst den Surrealismus und die Psychoanalyse.[1]

Insbesondere mit seinen Kurzgeschichten gilt Ballard als ein wichtiger Vertreter der Slipstream-Literatur in der Science-Fiction.[6]

Bibliografie

Auszeichnungen

Adaptionen

Film

Hörspiel

Musik

Auch Popmusiker ließen sich von Ballard inspirieren, so etwa die Band Ultravox, Ian Curtis von Joy Division[8], Genesis P-Orridge von Throbbing Gristle, The Normal, Sol Invictus, Exodus (The Atrocity Exhibition – Exhibit A), Moritz Eggert und Michael Obst. Seine 1960 veröffentlichte Erzählung The Sound-Sweep (Der Klangsauger) inspirierte 1979 The Buggles zu ihrem Hit Video Killed the Radio Star.[9] Die Experimental-Rock-Band The Sound of Animals Fighting ließ sich ebenso von Ballard inspirieren[10] wie „The Comsat Angels“, die sich nach einer seiner Kurzgeschichten benannten.[11] Weitere Referenzen wurden bei The Klaxons, Radiohead, Hawkwind, Suede und den Manic Street Preachers gefunden.[12]

Literatur

Biografien und Monografien
  • John Baxter: The Inner Man: The Life of J.G. Ballard, Weidenfeld & Nicolson, London 2011, ISBN 978-0-297-86352-6
  • Hans Frey: J.G. Ballard. Science Fiction als Paradoxon. SF Personality 25. Golkonda Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-944720-79-1.
  • Heinrich Keim: New Wave – die Avantgarde der modernen anglo-amerikanischen Science Fiction? Eine Untersuchung des literarischen Phänomens „New Wave“ anhand der Werke von James Graham Ballard, Michael Moorcock, Brian Wilson Aldiss, John Brunner, Norman Spinrad, Thomas M. Disch, John T. Sladek, Roger Zelazny, Samuel R. Delany. Corian, Meitingen 1983, ISBN 3-89048-301-1.
  • Joachim Körber (Hrsg.): James G. Ballard – Der Visionär des Phantastischen. Corian, Meitingen 1985, ISBN 3-89048-206-6.
Aufsätze und Artikel
  • Richard Behrens: J. G. Ballard (Memento vom 24. April 2015 im Internet Archive), Beitrag in The Scriptorium.
  • James Campbell: Strange fiction Porträt in The Guardian, 14. Juni 2008.
  • Werner Fuchs, Sascha Mamczak: George W. Bush möchte ich nun wirklich nicht ficken! Ein Gespräch mit J. G. Ballard. In: Science Fiction Jahr 2007, ISBN 978-3-453-52261-9, S. 432–442 (sein letztes Interview).
  • Evelyn Finger: Gewalt ohne Ende – Was lehrt uns die Katastrophe von New Orleans? Dass die Menschheit nur bedingt zivilisierbar ist, sagt der Apokalyptiker James Graham Ballard. Interview mit Ballard in Die Zeit Nr. 37 vom 8. September 2005.
  • Michael K. Iwoleit: Mythen der nahen Zukunft. Über Muster und Quellen im Werk J.G. Ballards. In: Das Science Fiction Jahr 2004, hrsg. von Sascha Mamczak und Wolfgang Jeschke, München 2004, ISBN 3-453-87896-5, S. 265–305.
  • Kai U. Jürgens: Die abgepolsterte Apokalypse. In J.G. Ballards „Millenium People“ geht die britische Mittelschicht an sich selbst zugrunde, 26. Dezember 2018.
  • Kai U. Jürgens: Die Republik des Metro-Centres. J.G. Ballards letzter Roman „Das Reich kommt“ verbindet Konsum, Faschismus und Wahn, 13. Juli 2019.
  • Kai U. Jürgens: Von der Schönheit zersplitternder Autokarosserien. J.G. Ballards kontroverser Kultroman „Crash“ in Neuübersetzung, 18. Februar 2020.
  • Heinrich Keim: James Graham Ballard: Crash. In: Hartmut Heuermann (Hrsg.): Der Science-Fiction-Roman in der angloamerikanischen Literatur. Interpretationen. Bagel, Düsseldorf 1986, ISBN 3-590-07454-X, S. 346–354.
  • Sascha Mamczak: Das Wunder des Lebens, in: Das Science Fiction Jahr 2011, herausgegeben von Sascha Mamczak, Wolfgang Jeschke und Sebastian Pirling. Heyne, München 2011, ISBN 978-3-453-53379-0, S. 1019–1023.
Lexika
  • Hans Joachim Alpers, Werner Fuchs, Ronald M. Hahn: Reclams Science-fiction-Führer. Reclam, Stuttgart 1982, ISBN 3-15-010312-6, S. 27–30.
  • Hans Joachim Alpers, Werner Fuchs, Ronald M. Hahn, Wolfgang Jeschke: Lexikon der Science Fiction Literatur. Heyne, München 1991, ISBN 3-453-02453-2, S. 197–201.
  • Don D’Ammassa: Encyclopedia of Science Fiction. Facts On File, New York 2005, ISBN 0-8160-5924-1, S. 22–24.
  • James Gunn (Hrsg.): The New Encyclopedia of Science Fiction. Viking, New York u. a. 1988, ISBN 0-670-81041-X, S. 35 f.
  • George Mann: The Mammoth Encyclopedia of Science Fiction. Robinson, London 2001, ISBN 1-84119-177-9, S. 50–52.
  • David Pringle, John Clute: Ballard, J G. In: John Clute, Peter Nicholls: The Encyclopedia of Science Fiction. 3. Auflage (Online-Ausgabe), 4. April 2017, abgerufen am 5. November 2017.
  • Robert Reginald: Science Fiction and Fantasy Literature. A Checklist, 1700–1974 with Contemporary Science Fiction Authors II. Gale, Detroit 1979, ISBN 0-8103-1051-1, S. 806.
  • Robert Reginald: Contemporary Science Fiction Authors. Arno Press, New York 1974, ISBN 0-405-06332-6, S. 13 f.
  • Donald H. Tuck: The Encyclopedia of Science Fiction and Fantasy through 1968. Advent, Chicago 1974, ISBN 0-911682-20-1, S. 28.
  • Nicholas Ruddick: Ballard, J(ames) G(raham). In: Noelle Watson, Paul E. Schellinger: Twentieth-Century Science-Fiction Writers. St. James Press, Chicago 1991, ISBN 1-55862-111-3, S. 29 f.

Weblinks

  • James Graham Ballard in der Internet Speculative Fiction Database (englisch)
  • Literatur von und über James Graham Ballard im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
  • James Graham Ballard in der Deutschen Biographie
  • James Graham Ballard in der Bibliographie deutschsprachiger Science-Fiction (Bücher, Storys, Artikel)
  • J. G. Ballard, Eintrag in der Science Fiction Awards+ Database
  • James Graham Ballard Fantastic Fiction Bibliographie (englisch)
  • James Graham Ballard bei IMDb
  • G._Ballard.html J. G. Ballard, Texte auf Free Speculative Fiction Online
  • Werke von James Graham Ballard bei Open Library
  • Kurzbiografie und Rezensionen zu Werken von J. G. Ballard bei Perlentaucher.
  • James Graham Ballard in der Datenbank Find a Grave (englisch)Vorlage:Findagrave/Wartung/Gleiche Kenner im Quelltext und in Wikidata

Einzelnachweise

  1. a b J. G. Ballard: Miracles of Life: Shanghai to Shepperton. An Autobiography, 2008, ISBN 0-00-727072-0.
  2. Tim Adams: Seeing him arrive, always smiling, ready for anything, was wonderful, Observer, 26. April 2009.
  3. Robert Mendick: Partner tells of unconventional life with literary giant JG Ballard, London Evening Standard, 20. April 2009.
  4. Definition „ballardian“ im Collins Dictionary, abgerufen am 7. Juni 2012.
  5. huffingtonpost.com: J.G. Ballard, 'Empire Of The Sun' Author, Dies At 78 (Memento vom 3. Oktober 2015 im Internet Archive) (englisch)
  6. readercon.org: A Working Canon of Slipstream Writings (Memento vom 6. September 2015 im Internet Archive; PDF; 152 KB, englisch)
  7. Ronald M. Hahn, Volker Jansen: Lexikon des Science Fiction-Films. Heyne, München 1997, ISBN 3-453-11860-X, S. 52 (dort fälschlich John B. Ballerd).
  8. Vgl. John Foxx’ Ausführungen zum Ballardianism in der englischen Popmusik in https://www.ballardian.com/john-foxx-interview (englisch)
  9. Will Hodgkinson: Horn of plenty | Music. In: theguardian.com. 5. November 2004, abgerufen am 4. Februar 2024 (englisch). 
  10. Andrea Dyer: Album Review: The Sounds of Animals Fighting – The Ocean and The Sun. Soundproof, archiviert vom Original am 17. Juni 2012; abgerufen am 8. Januar 2016 (englisch). 
  11. Interview mit dem Bandgründer
  12. Feature der BBC
Normdaten (Person): GND: 118656929 (lobid, OGND, AKS) | LCCN: n79043442 | NDL: 00432182 | VIAF: 9842556 | Wikipedia-Personensuche
Personendaten
NAME Ballard, James Graham
ALTERNATIVNAMEN Ballard, J. G.
KURZBESCHREIBUNG britischer Schriftsteller
GEBURTSDATUM 15. November 1930
GEBURTSORT Shanghai
STERBEDATUM 19. April 2009
STERBEORT Shepperton